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In memoria Anna

 

Veröffentlicht in Stimme werden – Gesicht zeigen

BIM Schriftenreihe Migration und Literatur

Free Pen Verlag Bonn

 

 

In memoriam Anna

Heute bin ich eine alte Frau, heute kenne ich den Begriff Zivilcourage. Als ich Kind war, kannte ich ihn nicht.

In der Schule hatte ich zwei beste Freundinnen. Romina war Deutsche und Anna Türkin. Wir gingen in die selbe Klasse, erlebten die selben Dinge, durchlebten den gleichen Kummer. Bis... ja bis wir fünfzehn wurden, erwachsen sein wollten und glaubten, die Welt zu begreifen. In Wahrheit verstanden wir nichts.

Anna hatte ein schmales schönes Gesicht, eingerahmt von glatten schwarzen Haaren. Ihre dunklen Augen wirkten als Kontrast zu dem blassen Teint größer und schwärzer, als sie wohl waren. Annas Mutter war als Küchenfrau im Krankenhaus tätig. Ihr Vater arbeitete am Hochofen in der Firma, in der Rominas Vater Direktor war. Uns Kinder kümmerte das nicht. Oft spielten wir bei schlechtem Wetter bei Anna zu Hause. Ihre Mutter war arbeiten, kam aber täglich auf die Minute genau zurück. Wir hörten sie die Treppe heraufschlurfen, sahen die verhärmte, alt wirkende Frau, rochen Küchendunst in ihrer Kleidung und in ihren Haaren. Für uns bedeutete das, es war achtzehn Uhr, Zeit nach Hause zu gehen.

Bei Romina konnten wir nicht so schön spielen. Ihre Mutter hatte ständig Besuch, Gäste die sich durch unsere Musik und unser fröhliches, oft unbändig lautes Lachen gestört fühlten. Rominas Mutter war bildschön, sanft und freundlich. Ich stellte mir manchmal vor, wie mich ihre schmalen, gepflegten Hände streichelten. Bei Annas Mutter gelang mir diese Vorstellung nie. Ich sah dann nur deren rote, rissige Hände und meine Phantasie spielte mir Streiche.

In der Klasse hatte Anna einen Platz allein in der Bank. Das hatte unsere Klassenlehrerin so bestimmt. Da die Schülerzahl ungerade war, fiel das nicht auf. Frau Dr. Wagner, unverheiratet und kurz vor ihrer Pensionierung gehörte einer anderen Generation an. Sie war sogar älter als meine Mutter, für uns Kinder also uralt. Ihre Ansichten waren durch ihre Erziehung geprägt und dabei so ganz anders, als die meines Elternhauses.

Anna hatte also eine Bank für sich allein. Nur als "Strafe" wurde ab und zu eine Schülerin, die nicht brav gewesen war, neben sie gesetzt. All das sahen wir, ohne es zu begreifen. Auch dass Anna immer stiller wurde, bemerkten wir nicht wirklich.

Dann kam Benno in unsere Klasse, lang, schlaksig, maulfaul. Keiner von uns interessierte sich für ihn. Außer Anna. Wenn sich ihre Blicke trafen, entzündeten sich Sterne in ihren Augen, ein Funkeln entstand, dass zu heiß war für Benno und zu hell für uns andere. Wir wandten uns dann immer ab.

Frau Dr. Wagner entrüstete sich.

"Das unmögliche Verhältnis muss aufhören", verlangte sie. Keiner wusste, was sie meinte, denn wir waren ja erst vierzehn, fünfzehn Jahre alt. Aber es hörte auf. Anna wurde immer stiller und im Unterricht unaufmerksam. Auch unsere Freundschaft litt unter ihrem distanzierten Verhalten. Eines Tages dann:

"Ich bin schwanger!" Anna flüsterte es kaum hörbar in der großen Pause und wurde wie durch Zauberhand wieder interessant für uns. Das war eine Sensation! Unser großes Geheimnis! Anna erklärte uns, der Arzt habe es ihr bestätigt, aber ihre Mutter und ihr Vater dürften nichts davon wissen. Wir schworen, es niemanden zu erzählen und natürlich wollten wir ihr helfen. Romina und ich trugen abwechselnd ihre Schultasche, verwöhnten sie mit Obst und Süßigkeiten, halfen ihr bei den Hausaufgaben. Nur abschreiben konnten wir sie nicht lassen. Sie saß ja allein in ihrer Bank.

Das ging so lange, bis ich mich verplapperte und meine Mutter es erfuhr. Und von ihr Rominas Mutter und von der Frau Dr. Wagner. Ein paar Tage später blieb die Bank leer.

Annas Mutter hat es später dem Direktor erzählt. Sie war einmal in ihrem Leben unpünktlich nach Hause gekommen. Der Bus hatte Verspätung gehabt. Und zehn Minuten nach sechs Uhr war zehn Minuten zu spät. Sie roch das Gas im dunklen Treppenhaus, begann zu laufen, schneller, schneller, schneller und doch zu langsam.

"Ich bin schuld", schluchzte sie am Grab, als der Pfarrer so schöne Worte sprach von der Freundin, die bei allen beliebt war, von dem willkommenen Gast in Deutschland.

"Ich bin schuld", schluchzte Annas Mutter.

"Ich auch!", sagte ich leise. Sah Benno an neben mir.

"Ich auch!", rief er lauter. Und ich hörte den Klang von hundert Kinderstimmen:

"Ich bin schuld!" Die Erwachsenen schwiegen. Aber dann wurde auch ich erwachsen.